Joachim Knebel, Walter Tromm u.a.: Nuklearkatastrophe von Fukushima

  • Datum: 12.02.2016
  • Sehr geehrte Damen und Herren,

    Am 11. März jährt sich zum fünften Mal der katastrophale Unfall im japanischen Kernkraftwerk Fukushima Daiichi, welcher sich nach dem schweren Erdbeben von Tohoku und dem folgenden Tsunami ereignete. Das Ereignis markiert einen Wendepunkt in der internationalen und insbesondere deutschen Energiepolitik. Als eines der größten Energieforschungszentren Europas begleitet das KIT nicht nur die Energiewende, seine Wissenschaftler haben auch die deutschen Behörden und die deutsche Öffentlichkeit vom Tag des Unfalls an mit ihrer Expertise beraten und die bruchstückhaften Informationen aus Japan in zahlreichen Berichten eingeordnet. 

     

     

    Im Folgenden stellen wir Ihnen die KIT-Experten zu den Themen Reaktorsicherheit, Ausbreitung von Radioaktivität, Rückbau, Endlager, Energiewende, Technik und Gesellschaft, Erdbeben sowie Katastrophenanalyse und -vorbeugung vor:

     

    „Anfangs war die Datenlage sehr unbestimmt“, erklärt Joachim Knebel vom KIT, der im Jahr 2011 als Sprecher des Helmholtz-Programms Nukleare Sicherheitsforschung die Task-Force zu den Auswirkungen des Unfalls in Fukushima leitete. „Um uns als Forscher fundiert gegenüber Politik und Presse äußern zu können, haben wir sechs deutschlandweite Arbeitsgruppen eingerichtet, um mit wissenschaftlicher Expertise möglichst viele relevante Informationen zusammenzutragen und zu bewerten.“ Auf dieser Grundlage wurden die Ministerien und die Öffentlichkeit täglich mit aktuellen Hintergrund-Informationen und eigenen Bewertungen der Lage versorgt. Die Berichte sind noch heute abrufbar: www.kit.edu/kit/6042.php . Joachim Knebel leitet am KIT den Bereich „Maschinenbau und Elektrotechnik“. Zu seiner Fachexpertise gehören die allgemeine Energieforschung, Speicher und vernetzte Infrastrukturen sowie die nukleare Sicherheitsforschung.

     

    „Seit Fukushima werden Sicherheitseigenschaften und vor allem Sicherheitskultur weltweit neu bewertet“, stellt Walter Tromm vom KIT fest, wissenschaftlicher Sprecher des Helmholtz-Programms Nukleare Entsorgung, Sicherheit und Strahlenforschung am KIT (www.nusafe.kit.edu). „Mittlerweile wird auch international durchgehend die laufende Evaluation und Nachrüstung von Kernkraftwerken auf dem aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik praktiziert, wie es in Deutschland seit 40 Jahren üblich ist.“ Sicherheitslücken und -verbesserungen werden offen diskutiert und Knowhow aus Deutschland wird nachgefragt: insbesondere Rechenwerkzeuge zur Reaktorsicherheit, die auf Grundlage aufwendiger experimenteller Untersuchungen zum Ablauf von und zu Schäden durch Kernschmelzen durchgeführt wurden. „Diese Tradition und die Tatsache, dass deutsche Firmen keine Kernkraftwerkstechnik mehr verkaufen, verhelfen deutschen Experten in den internationalen Gremien zu einem guten Ruf. Wir sind sozusagen interessenfrei und unsere Stimme hat in Sicherheitsfragen ein hohes Gewicht.“

     

    „Kurz nach dem Unfall in Fukushima erreichten uns gerade zur Freisetzung und Verbreitung von Radioaktivität Fragen aus der Öffentlichkeit in Japan aber auch weltweit“, erinnert sich Wolfgang Raskob, Leiter der Arbeitsgruppe Unfallfolgen des Instituts für Kern- und Energietechnik am KIT. Antworten lieferte das am KIT federführend entwickelte Simulationsprogramm RODOS (Real-time Online DecisiOn Support System). Es konnte die aktuelle Ausbreitung radioaktiver Stoffe in der Atmosphäre und im Wasser simulieren. Weiterhin ermöglicht das System die Simulation von Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung und der damit verbundenen radiologischen und materiellen Konsequenzen und unterstützt so die Entscheidungen der Verantwortlichen. „Heute wird RODOS in der Katastrophenvorsorge von mehr als zehn Ländern eingesetzt.“

     

    Nachdem das akute Unfallgeschehen in Fukushima eingedämmt war, begannen bereits die Aufräumarbeiten und die Rückbauplanung. „Die japanischen Kollegen rechnen mit 40 Jahren, um den Rückbau zu bewerkstelligen. Das ist sicherlich schon sehr ambitioniert", erklärt Sascha Gentes, Leiter des Instituts für Technologie und Management im Baubetrieb. Im Rahmen der Energiewende werden auch in Deutschland in einigen Jahren über 20 Kraftwerke rückgebaut. „Mit unserer Forschung wollen wir Rückbautechniken standardisieren, in dem wir Technologien optimieren und neue innovative Verfahren entwickeln.“ Im Mittelpunkt steht hierbei die Fernhantierung und Reduktion des einzusetzenden Personals vor Ort. Um Kosten und Dauer zu minimieren, gilt es ebenso Kriterien für das effiziente Rückbaumanagement zu etablieren. „Das Problem in Fukushima ist jedoch, dass es kein geordneter Rückbau sein kann.“ In Fukushima sind zum Teil die Brennelemente geschmolzen und Explosionen haben die Gebäude zerstört, somit ist die Radioaktivität an vielen Stellen noch extrem hoch. Für den Rückbau müssen daher Roboter entwickelt werden, die effektiv in den Ruinen arbeiten können.

     

    „Da die Nutzung der Kernenergie bald endet, rückt zunehmend die Frage nach der sicheren Endlagerung der radioaktiven Abfälle in den Fokus“, stellt Horst Geckeis fest, der das Institut für Nukleare Entsorgung am KIT leitet. In der öffentlichen Diskussion werden Optionen wie die direkte tiefengeologische Endlagerung mit und ohne Rückholbarkeit der Abfälle sowie die Langzeitzwischenlagerung intensiv diskutiert. „Für den Entscheidungsprozess wollen wir belastbare Daten für wissenschaftlich fundierte Sicherheitsnachweise bereitstellen.“ Das KIT liefert integrale Bestandteile für die nationale Vorsorgeforschung etwa zur langfristigen Mobilität und zum Verhalten von Radionukliden in der Geosphäre.

     

    „Die Studierenden haben erkannt, dass die Berufsaussichten für den Bereich Kraftwerkstechnik gerade im Ausland gut sind“, findet Thomas Schulenberg, Sprecher des KIT-Zentrums Energie und Koordinator des zweisprachigen Master-Studienganges Energietechnik. „Wir bilden international aus und beteiligen uns auch in der Forschung weitgehend an internationalen Projekten.“ Im Rahmen der forschungsorientierten Lehre des KIT werden Studierende bereits früh an die Forschung herangeführt. Schwerpunkte des Master-Studienganges Energietechnik am KIT sind Kraftwerkstechnik, Brennstoff, dezentrale Stromversorgung, Gebäude-Energietechnik, Nukleartechnologien, Energiewirtschaft und -informatik, Erneuerbare Energien und Speichertechnik sowie Infrastruktur.

     

    „Die Energiewende nach Fukushima stellt Gerechtigkeitsfragen und erfordert, dass sich nicht nur die Technik, sondern auch gesellschaftliche Regeln und lieb gewonnene Gewohnheiten verändern“, stellt Armin Grunwald, Leiter des Instituts für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse des KIT fest, welches sich mit den Wechselwirkungen zwischen technischem Fortschritt, gesellschaftlicher Entwicklung und kulturellem Wandel befasst. „Wir müssen darüber sprechen, wie viel uns die Energiewende, also die sichere und umweltfreundliche Bereitstellung von klimafreundlicher Energie, wert ist und wie die Kosten auf gesellschaftliche Gruppen verteilt werden sollen.“ Grunwald ist Mitglied der Kommission "Lagerung hoch radioaktiver Abfallstoffe" des Deutschen Bundestages, die einen gesellschaftlichen Konsens in der Frage der sicheren Endlagerung finden soll. „Neben den technischen Kriterien werden wir auch zahlreiche gesellschaftliche Fragen adressieren.“ Diese reichen von der Akzeptanz der Standortsuche und Beteiligung der Bevölkerung, bis hin zu Ethik und Gerechtigkeit dieser generationenübergreifenden Aufgabe.

     

    „Bisher gibt es noch keine anerkannte wissenschaftliche Grundlage, den Zeitpunkt eines Erdbebens vorherzusagen“, stellt Friedemann Wenzel fest, Leiter des Geophysikalischen Instituts des KIT. Daher ermöglichen Erdbeben-Frühwarnungen meist nur kurze Vorwarnzeiten von einigen Sekunden, die für Evakuierungen nicht ausreichen. Aber zumindest ermöglichen sie das Notfallmanagement von kritischen Infrastrukturen wie Strom- und Gasnetz, Bahnen und Aufzügen. Die Vorwarnzeit für Tsunami-Wellen beträgt meist mehrere Minuten bis Stunden. Jedoch sind die Auswirkungen von Tsunamis auf Küsten, Bauwerke und Infrastrukturen stark von der lokalen Geographie abhängig und es bedarf komplexer Computersimulation, um Gefahren abzuschätzen. „Zurzeit entwickeln wir als Input in ein europäisches Projekt Gefährdungsszenarien für alle Arten von Naturgefahren, auch für seltene Kombinationen.“ Diese Szenarien können auch dazu dienen die Sicherheitsanforderungen an europäische Kernkraftwerke anzupassen.

     

    „Das Erdbeben, der Tsunami und der nukleare Unfall haben zu ökonomischen Verwerfungen, sozialen Problemen und politischen Entscheidungen geführt“, sagt James Daniell vom KIT, der unter anderem am Center for Disaster Management and Risk Reduction Technology CEDIM forscht. Er hat 2011 als Mitglied der Task-Force die sozioökonomischen Auswirkungen und Verluste nach dem 11. März untersucht und in einem Bericht zusammengefasst (www.tatup-journal.de/tatup113_khua11a.php). „Einerseits sind 95 Prozent der fast 20.000 Toten direkt dem Tsunami zuzuordnen, jedoch waren über 60 Prozent der rund 130.000 Obdachlosen und Evakuierten eine direkte Folge des nuklearen Unfalls und 40 Prozent des wirtschaftlichen Schadens von rund 280 Milliarden Dollar gingen auf das Konto des Erdbebens. Für Katastrophenanalysen und Vorbeugung bedarf es also differenzierter Betrachtungen,“ so Daniell. „Natürliche und strukturelle Risiken besser zu verstehen, frühzeitig zu erkennen und besser bewältigen zu können, ist unser zentrales Ziel“, unterstreicht Michael Kunz, der Sprecher des Centers for Disaster Management and Risk Reduction Technology CEDIM. Für ein besseres Verständnis von Katastrophen und deren Bewältigung stehen CEDIM im Rahmen des derzeitigen Forschungsansatzes der „zeitnahen forensischen Katastrophenanalyse“ drei Hauptfragen im Vordergrund: Welche Faktoren machen aus einem extremen Naturereignis eine Katastrophe? Welche Interaktionen zwischen dem Naturereignis, den kritischen Infrastrukturen und den gesellschaftlichen Selbstschutzkapazitäten spielen hierfür die entscheidende Rolle? Wie lassen sich Ausmaß und Folgen von Katastrophen möglichst schnell abschätzen?

     

    Am Karlsruher Institut für Technologie forschen über 1300 Wissenschaftler an allen Aspekten der Energieversorgung. Sie unterstützen die Energiewende und den Umbau des Energiesystems in Deutschland. Klare Prioritäten liegen in den Bereichen Energieeffizienz und Erneuerbare Energien, Energiespeicher und Netze, Elektromobilität sowie dem Ausbau der internationalen Forschungszusammenarbeit. Das KIT ist eines der größten Energieforschungszentren in Europa und betreibt grundlegende und angewandte Forschung zu allen relevanten Energien für Industrie, Haushalt, Dienstleistungen und Mobilität. Technik- und naturwissenschaftliche, aber auch wirtschafts-, geistes- und sozialwissenschaftliche sowie rechtswissenschaftliche Kompetenzen fließen zusammen, um den Energiekreislauf ganzheitlich zu betrachten und auch die gesellschaftlichen Aspekte mit einzubeziehen. Die Energieforschung, gebündelt im KIT-Zentrum Energie, berücksichtigt alle Ansätze für eine sichere Energieversorgung. Im Mittelpunkt steht die Entwicklung eines Gesamtkonzepts für den Energiemix der Zukunft.

     

     

    Für weitere Informationen stellt die Abteilung Presse des KIT gern den Kontakt zu den Experten her. Bitte wenden Sie sich an Kosta Schinarakis, Tel. 0721 608 41956, schinarakis@kit.edu oder an das Sekretariat der Abteilung Presse, Tel. 0721- 608 47414, E-Mail an presse@kit.edu.
    Im Portal „KIT-Experten“ finden Sie weitere Ansprechpartner zu Highlights der KIT-Forschung und tagesaktuellen Themen: www.pkm.kit.edu/kit_experten.php

    Freundliche Grüße

    Karlsruher Institut für Technologie (KIT)
    Presse, Kommunikation und Marketing

    Monika Landgraf
    Pressesprecherin, Leiterin Presse

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